Der Artikel ist in der Zeitung des Verbandes „Selbsthilfe-Auto Aiuto“ Nr. 3/2015 erschienen.
Eines ist gewiss. Wenn jemand an einer psychischen Erkrankung leidet, ist davon seine ganze Familie mitbetroffen. Jede Krankheit bringt Sorgen, Ängste, Schmerz, Ohnmacht… mit sich, die einem aus der Bahn werfen. Nichts ist mehr, wie es vorher war.
Eine psychische Erkrankung bringt aber etwas mit sich, das noch viel schwerer zu ertragen ist. Zumindest zu Beginn kann niemand verstehen, was vor sich geht. Der Mensch, der gerade noch nett und liebenswert war, ist plötzlich abweisend, in sich gekehrt, ständig müde, gereizt. Er schläft kaum noch oder umgekehrt bleibt nur mehr im Bett. Jegliche Regeln des Zusammenlebens werden missachtet, Essenszeiten nicht eingehalten, die persönliche Hygiene vernachlässigt.
Warum antwortet er so barsch? Warum wirft er uns lautstark vor, ihn nicht zu verstehen? Warum lehnt er jeden Rat ab, vor allem den, sich an einen Arzt zu wenden? Alles, was man sagt, wird falsch aufgefasst. Vernünftig miteinander zu reden, ist kaum mehr möglich. Keiner kennt sich mehr aus. Man lebt in verschiedenen Welten.
Natürlich, und zum Glück, kommt nicht alles auf einmal und nicht bei allen ist es gleich. Unterschiede gibt es auch dadurch, wie jemand mit dem Erkrankten in Beziehung steht, ob es Eltern oder Kinder sind, ob es Bruder oder Schwester oder ob es der Lebenspartner ist. Verschieden ist auch wie viel sich jemand kümmert oder wie sehr jemand unter der Situation leidet.
Ich bin Mutter/Vater von…
Ich denke, es liegt in der Natur menschlicher Beziehungen, dass die Eltern, vor allem die Mütter, ungemein unter der Erkrankung eines ihrer Kinder leiden, besonders wenn dieses noch klein ist. Ihm wird alle Aufmerksamkeit geschenkt, auch auf Kosten der übrigen Familienmitglieder. Von Kindern kann man sich nicht trennen, vom Partner, wenn die Situation wirklich unerträglich wird, schon.
Ich bin Bruder/Schwester von…
Anders ist es bei Brüdern und Schwestern, bei denen oft auch Wut und Ärger mitmischen. „Und was ist mit mir, was kann ich dafür, dass es meinem Bruder/meiner Schwester schlecht geht?“, sind berechtigte Fragen. Hier ist natürlich darauf zu achten, sie nicht übermäßig zu belasten und sie ihr Leben leben zu lassen. Jedoch gibt es immer die Ausnahmen. Wenn die Eltern z. B. alt, krank oder nicht in der Lage sind, sich um ihr krankes „Kind“ zu kümmern. Dann trifft es die Geschwister. Meist ist es eine Schwester, die sich in dieser sehr schwierigen Situation vorfindet. Und wenn sie eine eigene Familie hat, leidet diese zwangsläufig mit. Sehr wahrscheinlich mischen sich Gefühle der Wut mit Mitleid, des Pflichtgefühls mit Hilflosigkeit, der Frustration mit dem Drang, etwas ändern zu wollen. Und hier braucht es mehr denn je Hilfe, um nicht selbst unter die Räder zu kommen.
Ich bin Tochter/Sohn von…
Auch für einen Sohn oder eine Tochter ist das Leben mit einem psychisch erkrankten Elternteil sehr sehr schwer. Besonders, wenn es sonst niemanden gibt, der sich kümmert und die Kinder eine Erwachsenenrolle einnehmen müssen. Nicht alle schaffen es, mit den Schuldgefühlen und der Verantwortung zu leben. Das Risiko, sich das ganze zukünftige Leben zu verderben, ist sehr hoch.
Ich bin Partner/Partnerin von…
Bei Partnern von psychisch erkrankten Menschen ist die Beziehung am meisten betroffen. „Wir haben uns kennengelernt, uns ein gemeinsames Leben aufgebaut. Wir hatten ein gemütliches Heim, nette Freunde, genügend Freizeit… und nun? Nun muss ich für ihn/sie sorgen, wie eine Mutter oder ein Vater. Das war es nicht, was ich wollte.“ Meistens stehen die Partner aber über diesen Dingen. Trotz der vielen unvermeidbaren Schwierigkeiten stehen sie zueinander.
Aber niemand kann das ohne Hilfe schaffen. Fachärztliche Begleitung ist in jedem Falle, unabhängig von der Beziehungsebene, unerlässlich. Auch wenn der Erkrankte jegliche Hilfe ablehnt, ist es trotzdem wichtig, für sich als Angehörige/r Unterstützung zu suchen, um besser mit der Situation klarzukommen.
Um anderen längerfristig helfen zu können, braucht man auch selbst Hilfe.
Alle geführten Interviews sprechen am Ende von Hoffnung, dass es möglich ist, gesund zu werden oder bestmöglichst mit der Erkrankung umzugehen und ein sinnvolles Leben zu führen. Aber niemand kann es alleine schaffen. Neben der ärztlichen Betreuung braucht es auch die Unterstützung und Solidarität der Angehörigen, der Freunde oder einer Selbsthilfegruppe. Schamgefühle ebenso wie die Angst, andere zu stören oder nicht verstanden zu werden, müssen überwunden werden. Erfahrungen mit anderen zu teilen, die Ähnliches erlebt haben, kann sehr heilsam sein.
In den Interviews zeigen sich durchwegs auch einige Lichtblicke, wenn auch nur wenige. Trotzdem zeugen sie von gemeinsam Geschafftem.
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