Der Artikel ist in der Zeitung des Verbandes „Selbsthilfe-Auto Aiuto“ Nr. 3/2017 erschienen.
Das Krankheitsbild „Angehörige/r (und Freund/in) eines psychisch erkrankten Menschen“ habe ich in meinem Leben in den verschiedensten Varianten kennengelernt und durchlebt – als Sohn, als Bruder, als Vater, als Freund, als „guter Bekannter“ oder Vertrauter und auch als Mediziner. Auch als „Außenstehender“ einer Familie wird man automatisch mit hineingezogen in die sowieso lang dauernde, unangenehme, unverstandene, gefürchtete, verfluchte „psychische Erkrankung“, die nach wie vor von vielen Menschen als Schande, als Gefahr, als Horror, als „Verrückt-Sein“, als „Stigma“ empfunden und deshalb sehr oft abgelehnt wird – von Betroffenen wie von Angehörigen. Die Basis dieser Ablehnung ist nicht selten die Einstellung: „Was es nicht geben darf, leugne ich, und was ich leugne, gibt es nicht“ – ein verhängnis- voller Irrtum. Ein Problem oder eine Krise, die ich nicht anschaue, kann ich nicht lösen.
Bei Betroffenen gibt es zwei extreme Einstellungen; die älteste ist wohl: „Ich bin nicht psychisch krank – ich spinne ja nicht!“, die einfachste hingegen: „Mir ist klar, dass ich in eine Depression hineingerutscht bin; bitte sag mir, was ich tun soll!“ Dazwischen liegen Formen mit jahrelangen Beschuldigungen in der Art: „Es bist wohl du psychisch krank und ich normal“ oder „Du bist schuld, wenn es mir nicht gut geht“, „Was willst denn du verstehen?“, „Seitdem ich auf dich höre, geht es mir schlecht, also hätte ich besser nie auf dich gehört“ bis hin zu „Du willst mich krank machen!“ Mit solchen „Krankheitsauslösern“ umzugehen ist sehr schwer (ich rede immer noch vom „Krankheitsbild Angehöriger psychisch erkrankter Menschen“). Wenn man mit-erkrankt ist, führt dies gerne zu Äußerungen wie „Du wirst doch nicht Medikamente nehmen, die sind ja Gift!“, „Solange du nicht…, wird es nie besser werden“, auch zu therapeutischen Kommentaren wie „Mit Liebe und Gebet wird das alles gelöst“, „Gesund wirst du nur, wenn du…!“ oder „Hast du … schon versucht?“ oder „Bist du schon bei … gewesen?“ oder auch „Ich habe kein Vertrauen zu den Ärzt/innen, weil jemand irgendwann … hatte und doch nicht gesund wurde“, ebenso (ausgesprochen oder nicht): „Das darf nicht wahr sein, weil…!“, „Ich habe dir immer schon gesagt…!“ oder „Kein Wunder, wenn du immer…!“ Solche Einstellungen sind (als Formen der Mit-Erkrankung) äußerst gefährlich.
Ich habe mit-erkrankte Angehörige kennengelernt, die es als ihre Lebensaufgabe sahen, einen psychisch erkrankten Menschen zu pflegen aus dem Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben oder nicht genügend auf den anderen geschaut zu haben (fast immer zu Unrecht). Das konnte zur Lebensaufgabe werden, wo sich die Angehörigen selbst aufgaben, oder zu einer Form von Abhängigkeit, bei der die Krankheit hochgeschaukelt wurde und nicht enden durfte, weil sonst der (selbst ernannte) Lebens-Sinn verloren gegangen wäre. Ein Ende der Krankheit des Angehörigen hätte zur Katastrophe geführt.
Diese Menschen wären ohne die tägliche Sorge, „Für-Sorge“, Über-Sorge und „Über-Für-Sorge“ für den Angehörigen selber krank geworden, weil es eine Bestätigung ihres guten Willens war oder auch, weil sie den erkrankten Menschen nicht loslassen konnten. Eine Besserung oder Genesung konnten sie ihm – aus welchem Grund auch immer – nicht zutrauen, vielleicht sogar nicht zugestehen. Man könnte vermuten, dass sie irgendwann in einer Über-Behütungs-Erkrankung gelandet sind. Andere wieder wurden (körperlich und/oder psychisch) krank in der Sorge und Über-Sorge, weil sich eine Überforderung als logische Folgerung einstellte.
Dann gibt es freilich noch eine weitere Kategorie: diejenigen, die fragen: „Wie kann ich helfen?“ und es ernst meinen; die versuchen zu verstehen (z. B. mit der Frage: Meinst du das so…“ oder „Verstehe ich es richtig, wenn…“) und Äußerungen als wahr stehen lassen; die einfach nur da sind, zuhören und schweigen, die richtig interpretieren, ob körperliche Nähe hilfreich ist oder im Moment nicht angenehm, ob ehrliche Worte als sinnvoll, belastend oder aufmunternd empfunden werden, und die sich auch damit abfinden, einmal nicht helfen zu können. Genauso gibt es jene, die mit (teils endloser) Kraft und Geduld und trotz vieler Widerstände erkrankte Menschen begleiten, trösten und teilweise zur Behandlung drängen und damit wesentlichen Anteil an der Besserung oder Genesung haben. Sie haben gelernt, zwar mit betroffen zu sein, sich aber doch so gut wie möglich abzugrenzen, an der Belastung des eigenen Mit-Hinein-Gezogen-Werdens zu arbeiten.
Sollten Sie (jetzt oder irgendwann) in Kontakt kommen mit dem hier beschriebenen Krankheitsbild „Angehörige/r eines psychisch erkrankten Menschen“, dann will dieser Bericht Ihnen helfen, sich zurechtzufinden in dem dreifachen Team Betroffene/r, Betreuer/in und Angehörige/r und so Ihren Teil beizutragen, dass es allen drei Gruppen möglichst lange gut geht. Versuchen Sie herauszubekommen, zu welcher Gruppe von Angehörigen (und Freunden) psychisch erkrankter Menschen Sie gehören! Halten Sie die Augen offen und suchen Sie sich rechtzeitig Hilfe – Sie brauchen es!