Der Text stammt aus der Informationsbroschüre „Psychische Gesundheit – was ist das?“, Seite 63 bis 67, herausgegeben im Jahr 2009 von der Autonomen Provinz Bozen, Amt für Gesundheitssprengel (2. überarbeitete Auflage).
Dysthymie – Was ist das?
Wir alle sind immer wieder einmal traurig verstimmt. Äußere Ereignisse, Belastungssituationen, aber auch einfache Enttäuschungen des Alltags können zu einer traurigen oder gereizten Stimmung führen. Nach einiger Zeit klingen diese negativen Gedanken und Gefühle normalerweise wieder ab. Leidet jemand aber mindestens zwei Jahre lang fast täglich und beinahe den ganzen Tag über an einer depressiven Verstimmung, spricht man von einer Dysthymie.
Die Dysthymie ist eine Sonderform der Depression. Betroffene fühlen sich Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte lang müde, niedergeschlagen und traurig, grübeln und klagen viel, entwickeln verschiedene Befürchtungen und Ängste, und halten sich ganz allgemein für unfähig. Fast alles strengt sie an, fast nichts können sie genießen. Sie empfinden sich erschöpft und energielos, reagieren gereizt oder verärgert, haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren oder Entscheidungen zu treffen. Auch Selbstwertprobleme und Kontaktschwierigkeiten sind typische Kennzeichen einer Dysthymie. Schlaf und Appetit sind meist gestört und können von unklaren körperlichen Beschwerden (Schwindelgefühle, Schwäche, Schmerzen) begleitet werden.
Im Verhältnis zur depressiven Episode (siehe Artikel: Depression) sind die Merkmale der Dysthymie schwächer ausgeprägt, halten dafür aber viel länger an. Oft fällt den Betroffenen ihre eigene Interesselosigkeit und selbstkritische Einstellung auf, häufig halten sie sich für langweilig. Diese Erlebens- und Verhaltensweisen sind so sehr zu einem Teil ihres Alltags geworden, dass sie glauben, dies sei ihr Charakter oder ihre Persönlichkeit: „So bin ich eben“. Dysthymie wird daher viel zu selten als psychische Erkrankung erkannt und behandelt.
Seelisches Leid ist oft nicht sichtbar
Menschen, die an einer Dysthymie erkranken, schaffen es meist, ihren beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen nachzukommen. Die Mühe, die sie dieses Unterfangen kostet, wird in der Regel nicht sichtbar. Dies kann dazu führen, dass ihr Leidensdruck von außen weder erkannt noch ernst genommen wird. Die ständige traurige Stimmungslage kann bei anderen Menschen Ärger und Wut auf „diese ewigen Spielverderber“ und Pessimisten auslösen. Nicht verstanden zu werden, verstärkt wiederum die Selbstzweifel und negativen Gefühle der Betroffenen. Sie wirken dann in ihrem Verhalten noch hoffnungsloser und gereizter. Leicht entsteht daraus ein Teufelskreis, der die Betroffenen und ihre Umwelt schwer belastet.
Kennzeichen der Dysthymie sind ein schleichender Beginn und ein chronischer Verlauf
Etwa 6 Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Dysthymie. Gewöhnlich entwickelt sich die lang anhaltende Verstimmung im frühen Erwachsenenalter. Sie kann aber auch bereits im Kindes- und Jugendalter auftreten. Während bei frühem Beginn Mädchen und Jungen gleich häufig betroffen sind, tritt die Dysthymie im Erwachsenenalter bei Frauen zwei bis dreimal häufiger auf als bei Männern. Wenn ältere Personen daran erkranken, entsteht die Störung meist nach einer depressiven Episode, nach einem Trauerfall oder einer anderen seelischen bzw. körperlichen Belastung.
Die Dysthymie hat viele Ursachen
Erbliche und körperliche Einflüsse können genauso eine Rolle spielen, wie seelische und soziale Belastungen. Viele an Dysthymie Erkrankte führen ihre dauernde traurige Verstimmung auf eine schwierige Kindheit zurück, andere auf Belastungssituationen im Lauf des späteren Lebens. Wieder andere glauben, bereits seit ihrer Geburt traurige Menschen zu sein. Häufig tritt die Dysthymie im Zusammenhang mit anderen psychischen Störungen auf. Nicht selten ist sie mit wiederkehrenden Depressionen kombiniert. Auch Angststörungen, Missbrauch von Medikamenten und Alkoholabhängigkeit können mit einer Dysthymie gepaart vorkommen.
Dysthymie kann erfolgreich behandelt werden. Viele Menschen, die an Dysthymie leiden, suchen keine Hilfe, weil sie glauben, dass ihr Unglücklichsein zu ihrem Leben gehört. Sie halten es nicht für eine Krankheit, die geheilt werden kann. Auch Angehörige merken selten, dass bestimmte schwer erträgliche „Charaktereigenschaften“ eigentlich eine Erkrankung darstellen. Dies führt dazu, dass Betroffene oft Jahre lang unter großem Leidensdruck stehen, bevor sie sich in Behandlung begeben.
Wer hilft?
Es ist keine Schande, Hilfe zu suchen. Aber der erste Schritt erfordert Mut und Überwindung. Angehörige und Freunde können Betroffenen dabei beistehen. Der Hausarzt sollte aufgesucht werden, wenn man im Zweifel ist, ob man an einer Dysthymie leidet. Er kann körperliche Ursachen ausschließen, die Störung selbst behandeln oder an einen Facharzt bzw. Psychotherapeuten überweisen. Psychotherapeuten (meist Psychologen oder Psychiater) sind die besten Ansprechpartner, wenn es darum geht, seelische Belastungen und Probleme zu bearbeiten. An einen Psychiater sollte man sich wenden, wenn der Leidensdruck sehr groß ist oder Selbsttötungsgedanken bestehen. In Selbsthilfegruppen merken Betroffene, dass sie in ihrem Leid nicht allein sind. Sie können sich gegenseitig stützen und beraten.
Was hilft?
Mit Psychotherapie und der zusätzlichen Gabe von antidepressiven Medikamenten bei Bedarf stehen hoch wirksame Behandlungsmethoden zur Verfügung. Bei der Therapie muss die besondere Situation jedes einzelnen Menschen genau berücksichtigt werden. In einer Psychotherapie erwirbt der Betroffene Strategien, um seine Probleme anders zu sehen und neu mit ihnen umzugehen. Eine wichtige Rolle spielen dabei das Erleben positiver Erfahrungen und das Durchbrechen von Grübeleien und Sorgen.
Es gibt viele verschiedene Psychotherapierichtungen. Manche legen Wert auf das Erforschen der Kindheit, andere arbeiten lieber an der aktuellen Situation, mit Verhaltenstraining, Entspannungstechniken, Körperempfindungen. Wieder andere erfordern die Teilnahme der Familie oder werden in Gruppen durchgeführt. Man weiß heute, dass die Art der Psychotherapie nicht so entscheidend für das Ergebnis ist. Wesentlich ist die Beziehung, die der Betroffene (Klient) und der Therapeut aufbauen – ein Klima des Vertrauens und des Respekts. Was in einer Psychotherapie gesagt oder getan wird, untersteht der Schweigepflicht.
In der Psychotherapie lernt der Betroffene sich selbst besser zu akzeptieren. Er erkennt, dass er die anderen nicht ändern kann. Den einzigen Menschen, den er ändern kann, ist er selbst. Antidepressive Medikamente müssen regelmäßig eingenommen werden. Ihre Wirkung (Wiederkehr der Kraft und Besserung der Stimmung) beginnt erst nach vier bis sechs Wochen. Bei der Dysthymie ist der Stoffwechsel im Gehirn verändert. In bestimmten Zentren des Gehirns kommt es zu einem Mangel an aktivierenden Botenstoffen, sodass positive, anregende Signale schlechter übertragen werden können. Das antidepressive Medikament gleicht den Mangel an Botenstoffen wieder aus und verbessert dadurch die Signalübertragung. Es konnte nachgewiesen werden, dass auch erfolgreiche Psychotherapie die Informationsübertragung durch eine stärkere Aktivität der Botenstoffe verbessern kann. Um Rückfälle zu vermeiden, ist meist eine monatelange medikamentöse Therapie notwendig. Manche Betroffene nehmen Medikamente, die geholfen haben, zur Absicherung oder Vorbeugung über Jahre weiter.
Antidepressiva machen nicht abhängig, sie verändern auch nicht die Persönlichkeit. Sportliche Betätigung kann hilfreich sein, um Schwäche und Abgeschlagenheit zu überwinden. Die Dysthymie ist keine negative Charaktereigenschaft. Sie kann heute in aller Regel erfolgreich behandelt werden. Dabei ist die Psychotherapie das Hilfsmittel der Wahl. Eventuell können antidepressive Medikamente und Psychotherapie kombiniert werden. Dadurch sind rasche Hilfe und dauerhafte Veränderung möglich.