Der Text stammt aus der Informationsbroschüre „Psychische Gesundheit – was ist das?“, Seite 51 bis 55, herausgegeben im Jahr 2009 von der Autonomen Provinz Bozen, Amt für Gesundheitssprengel (2. überarbeitete Auflage).
Schlanker, schöner, erfolgreicher!
Schlank sein heißt schön und erfolgreich sein. Dieser feste Glaube wird seit Jahren mit Eifer in den Medien und in der Werbung verbreitet. Die Mode ist beherrscht von völlig abgemagerten Models. Sie sind zum Vorbild vieler junger Mädchen, Frauen und Männer geworden. Immer mehr Menschen sehen in den Spiegel und sind mit ihrem Aussehen unzufrieden. Viele fühlen sich zu dick. Sie setzen Schlankheit mit Glück und Selbstbestätigung gleich. Die Angst, diesem Ideal nicht zu entsprechen, kann zur Qual werden. Je unzufriedener wir mit uns und unserem Aussehen sind, desto mehr streben wir nach Veränderung unseres Körpers. Diäten scheinen dabei eine schnelle Lösung zu sein.
Fast jede Essstörung beginnt mit einer Diät. Das Angebot an Diäten ist unüberschaubar geworden. Wer von uns hat nicht schon die eine oder andere Diät selbst durchstudiert oder ausprobiert? Dieser Schritt bedeutet für viele junge Frauen und Männer den Beginn eines langen und leidvollen Weges in eine Essstörung. Die meisten Menschen beenden Diäten, wenn das gewünschte Gewicht erreicht ist. Essgestörte aber machen weiter. Die Angst zuzunehmen und der Wunsch abzunehmen nehmen kein Ende.
Wer ist gefährdet?
In den Industrieländern sind neuesten Schätzungen zufolge mindestens 1 Prozent aller Frauen von Magersucht und 4 Prozent von Ess-Brech-Sucht betroffen. Unter Essstörungen leiden nach wie vor mehr Frauen als Männer. Männer aber sind im Aufholen. Bei ihnen steht oft extreme körperliche Betätigung durch Sport im Vordergrund. Der Beginn einer Essstörung konzentriert sich häufig auf die Pubertätszeit oder das frühe Erwachsenenalter.
Was ist eine Essstörung?
Essstörungen sind Störungen des Essverhaltens. Genussfähigkeit und soziale Kontakte durch gemeinsames Essen haben keinen Platz mehr. Betroffene nehmen Nahrung nicht mehr regelmäßig, selbstverständlich und ausgewogen auf. Hunger, Appetit und Sättigung sind völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Die gedankliche Beschäftigung mit dem Essen (Kalorien) bestimmt den Alltag. In dieser Phase ziehen sich Betroffene oft von Freunden und Bekannten zurück. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist verzerrt. Die Waage ist ausschlaggebend für Wohlbefinden und Zufriedenheit. Betroffene fühlen sich durch ständiges Hungern und Abnehmen leistungsstark, unabhängig, liebenswert und bestätigt. Essen wird als Versagen erlebt. Und doch wird der Hunger oft so stark, dass Essgestörte „kapitulieren” und unkontrolliert Nahrung zu sich nehmen. Dieses Verhalten stürzt sie in schwere Schuldgefühle. Sie versuchen deshalb, die aufgenommene Nahrung sofort wieder los zu werden. Ängste, Schuldgefühle und Hoffnung werden zum täglichen Brot. Ein manchmal tödlicher Teufelskreis beginnt.
Grundsätzlich wird zwischen der Magersucht (Anorexie), der Ess-Brech-Sucht (Bulimie) und der Esssucht (Binge-Eating-Störung) unterschieden.
Magersucht (Anorexie)
- Magersüchtige erkennt man deutlich an ihrem Untergewicht. Sie führen gezielt um jeden Preis eine Gewichtsabnahme herbei. Dafür hungern sie, fasten, halten Diät, betreiben Sport – all das in süchtiger Weise. Magersüchtige müssen oft den ganzen Tag in Bewegung sein, um Kalorien zu verbrennen. Sie greifen auch zu Appetitzüglern und zu Abführmitteln.
- Die Wahrnehmung des eigenen Körpers entspricht nicht der Wirklichkeit. Magersüchtige fühlen sich trotz Untergewicht immer zu dick und können nie dünn genug sein.
- Die Angst, an Gewicht zuzunehmen, ist dauernd da.
- Die Monatsblutung bleibt ab einem bestimmten Untergewicht aus. Seelische Probleme wie Ängste, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Unruhe, Konzentrationsstörungen, Interessensverlust, Depression oder sozialer Rückzug entwickeln sich.
Körperliche Folgen wie Haarausfall, Kälteempfindlichkeit, Verstopfung, Schlafstörungen, Schwächezustände, niedriger Blutdruck, Herzrhythmusstörungen, Kalkverlust der Knochen, Salzverluste, Schwellungen, Wachstumsstörungen, Brust- und Hodenverkleinerung, Unfruchtbarkeit und andere treten auf.
Ess-Brech-Sucht (Bulimie)
Menschen, die an einer Ess-Brech-Sucht leiden, müssen nicht untergewichtig sein. Vielfach sind sie normalgewichtig oder leicht übergewichtig. Große Gewichtsschwankungen sind kennzeichnend.
- Betroffene diäten und fasten, bis sie schließlich Heißhungeranfälle entwickeln und unkontrolliert kalorienreiche Nahrung in sich hineinstopfen. Dabei veranstalten sie meist regelrechte Essorgien. Diesem rauschhaften Essen gehen regelmäßig intensive Gefühle der Anspannung, der Langeweile, des Ärgers oder der innerer Leere voraus.
- Da Betroffene das Völlegefühl nicht aushalten und Angst haben zuzunehmen, erbrechen sie gewollt. Auch Abführmittel und harntreibende Medikamente nehmen sie gezielt ein, um die aufgenommene Nahrung so schnell wie möglich wieder los zu werden. Diese Handlungen können sich mehrmals täglich wiederholen. Sie werden mit der Zeit zu zwanghaften Ritualen, die vor anderen Menschen verheimlicht werden.
- Eine schlanke Figur und wenig Gewicht werden zu den wichtigsten Lebenszielen.
- Die Körperwahrnehmung ist verzerrt: Unabhängig vom bestehenden Gewicht fühlen sich Ess-Brechsüchtige zu dick und unförmig.
Seelische Probleme wie Scham- und Schuldgefühle, Stimmungsschwankungen, Ängste, Reizbarkeit, Unruhe, Konzentrationsstörungen und Depressionen begleiten die Störung. Je länger die Störung dauert, desto mehr körperliche Begleit- und Folgeerscheinungen treten auf. Störungen im Salzwasserhaushalt, Beeinträchtigungen der Nierenfunktion, Verstopfung und Blähungen, Schwindel und Kreislaufstörungen, Herzrhythmusstörungen, unregelmäßige Monatsblutung, Verletzungen und Entzündungen in der Speiseröhre, Magenschmerzen, Zahnschmelzabbau, Schwellungen der Speicheldrüsen sind nur einige davon.
Esssucht (Binge-Eating-Störung)
Zu der Magersucht und der Bulimie ist in den letzten Jahren die Binge-Eating-Störung hinzugekommen. Dabei kommt es zu Essanfällen ohne gegensteuernde Maßnahmen, wie Erbrechen, Fasten oder intensive körperliche Betätigung. Die Binge-Eating-Störung ist daher in der Regel mit Übergewicht verbunden. Sie betrifft Frauen gleich häufig wie Männer.
Die häufigsten Ursachen
Mögliche Ursachen, Auslöser und aufrecht erhaltende Momente bei einer Essstörung können sehr unterschiedlich sein. Meist gehen einer Essstörung kritische Lebensereignisse voraus, wie Konflikte in der Familie, die Trennung vom Elternhaus, Schwierigkeiten in der Partnerschaft, in der Schule oder am Arbeitsplatz. Eine zentrale Bedeutung bei der Entwicklung von Essstörungen kommt einem mangelnden Selbstwertgefühl, meist in Verbindung mit einem extremen Leistungsstreben zu. Das heutige Schlankheitsideal und seine Vermarktung durch Medien und Werbung spielen dabei eine wesentliche Rolle.
Hilfen
Hilfe anzunehmen ist für die meisten Essgestörten sehr schwierig. Krankheitseinsicht und Motivation lassen oft lange auf sich warten. Nicht selten suchen besorgte Eltern, Lehrer, Freunde und Bekannte als Erste Rat und Hilfe. Sie zu beraten und aufzuklären ist Teil der Behandlung. Die Therapie selbst ist meist langwierig. Schnelle Erfolge sind selten. Je früher eine Essstörung jedoch erkannt und behandelt wird, desto größer sind die Aussichten auf Gesundung. Der Erfolg der Therapie hängt im Wesentlichen von der Motivation der Betroffenen ab. Bei lebensgefährlichem Untergewicht oder einem völlig außer Kontrolle geratenen Ess-Brechverhalten, ist eine Aufnahme und Behandlung im Krankenhaus notwendig. Dabei geht es zunächst um eine Gewichtszunahme und darum, dass sich das Essverhalten wieder einigermaßen normalisiert. Für länger dauernde Aufenthalte stehen psychosomatische Fachkliniken zur Verfügung.
Da die beschriebenen Essstörungen vorwiegend durch seelische Ursachen bedingt sind, stellt die Psychotherapie das Mittel der Wahl dar. Dabei kommen verschiedene Ansätze der Einzel-, Familien- und Gruppentherapie zur Anwendung. Aber auch in der Psychotherapie wird vorerst das Hauptaugenmerk auf dem Körpergewicht und der Einnahme regelmäßiger Mahlzeiten liegen. Es werden Protokolle über den Tagesablauf und über das Essverhalten erstellt, Informationen und Richtlinien über gesunde Ernährung erarbeitet und nach kurzfristigen Möglichkeiten gesucht, um Ängste auszuhalten und zu bewältigen. Entspannungstechniken und soziale Kontakte können dabei sehr hilfreich sein. Erst wenn Körpergewicht und Essverhalten wieder einigermaßen stabil sind, kann auf die grundlegenden Schwierigkeiten der Betroffenen eingegangen werden. Häufig handelt es sich um Selbstwertprobleme und Schwierigkeiten in der Entwicklung von Identität oder Autonomie.
Eine enge Zusammenarbeit zwischen Arzt und Psychotherapeut ist angesichts der zum Teil schwerwiegenden psychischen und körperlichen Folgeschäden unbedingt notwendig. Die ärztliche Betreuung können in der Therapie von Essstörungen erfahrene Hausärzte, Internisten, Psychiater oder Kinderärzte übernehmen, die Rolle des Psychotherapeuten in der Regel Psychologen oder Psychiater. Psychopharmaka, vor allem Antidepressiva, können in der Therapie sehr hilfreich sein. Die Zusammenarbeit mit Ernährungsberatern ist sinnvoll. Selbsthilfegruppen leisten wertvolle Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit. In ihnen fällt es Betroffenen viel leichter, zu ihrer Störung zu stehen. Essstörungen werden immer häufiger und sind nicht selten lebensbedrohliche Erkrankungen. Je früher sie erkannt werden und je motivierter die Betroffenen sind, desto erfolgreicher ist die Behandlung.