Der Artikel ist in der Zeitung des Verbandes „Selbsthilfe-Auto Aiuto“ Nr. 2/2015 erschienen.
Meine Schwester, ich will sie hier Julia nennen, ist vier Jahre älter als ich. Julia und ich verstanden uns als Kinder nicht besonders gut. Wir stritten viel und ich fand, sie verhielt sich recht unfreundlich und abweisend mir gegenüber.
Als ich 14 Jahre alt war, wachte ich eines Nachts in unserem gemeinsamen Kinderzimmer auf, weil Julia am Boden saß und verzweifelt weinte. Ich erschrak und fragte sie, was los sei. Sie meinte, sie sei furchtbar traurig. Meinen Tipp, zu meinen Eltern zu gehen, lehnte sie ab, die würden sie nicht verstehen, meinte sie. Sie bat mich, zu mir ins Bett kommen zu dürfen. Ich erschrak, sie tat mir unheimlich leid, gleichzeitig fühlte ich mich aber total überfordert. Sie war meine ältere Schwester, und jetzt wollte sie zu mir ins Bett? Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihr dieses Bedürfnis nicht erfüllen konnte, obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie wirklich Nähe gebraucht hätte, konnte aber einfach nicht.
Von da an passierten Dinge, die ich nicht einordnen konnte: Julia malte in riesigen, schwarzen Buchstaben Schimpfwörter an die Kinderzimmerwand, warf Dinge aus dem Fenster unserer Wohnung, ging in die Apotheke und wollte Tabletten kaufen, um sich umzubringen. Sie fügte sich mit einer Rasierklinge Wunden an den Beinen zu. Daraufhin brachten unsere Eltern sie in die Psychiatrie unseres Krankenhauses, später auch nach Innsbruck. Welche Diagnose gestellt wurde, nämlich Depression, habe ich erst viel später erfahren. Meine Eltern haben nie offen mit mir darüber gesprochen, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.
Für unsere Familie war die Situation schwierig. Meine Eltern machten sich große Sorgen und waren, denke ich, auch überfordert. Wir waren kaum mehr unbeschwert, gleichzeitig wurde nicht darüber gesprochen. Die „Krankheit“ von Julia hat alles überschattet. Ich hatte lange das Gefühl, meine Eltern würden sie nicht verstehen und nicht richtig behandeln – mehr Verständnis und Hilfe würden sie wieder heilen. Ich versuchte, zwischen ihnen und Julia zu vermitteln, was mir allerdings selten gelang, da wir die Dinge zu unterschiedlich sahen und gleichzeitig großes Schweigen herrschte. Damals, vor vielen Jahren, waren psychische Krankheiten ein Tabu. Es wurde nur hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen. Dann allerdings erfuhr man, dass es vielen Leuten so ähnlich ging. Ich habe mit Freundinnen darüber gesprochen, manche hatten selbst ähnliche Erfahrungen, das half ein wenig.
Ich fühlte mich häufig hin- und hergerissen. Ich wollte Julia helfen, konnte das aber nicht so, dass es ihr wirklich gut ging, deshalb machte ich mir Vorwürfe und hatte immer das Gefühl, wenn ich mich nur noch mehr anstrengen würde, würde es klappen – dieses Gefühl begleitet mich zum Teil heute noch. Es war schwierig, mich selbst als so wenig selbstwirksam zu erleben. Oft fühlte ich mich überfordert und war dann manchmal ungerecht zu ihr oder machte ihr Vorwürfe. Das löste dann wieder ein sehr schlechtes Gewissen in mir aus. Ich fühlte mich sehr verantwortlich und gleichzeitig sehr ohnmächtig. Irgendwie bekam ich die Krankheit nie richtig zu fassen, verstand nie wirklich, was eigentlich los war mit ihr.
Hilfreich wäre es sicher gewesen, wenn jemand mit mir darüber gesprochen hätte, mir erklärt hätte, was da passiert und wie ich mich Julia gegenüber verhalten sollte, dass ich nicht verantwortlich für sie sei und sie auch nicht heilen könnte. Ich weiß zwar nicht, ob ich es geglaubt hätte, aber einen Versuch wäre es wert gewesen.
Besonders schlimm war für mich zu sehen, wie sie immer mehr Medikamente verschrieben bekam, immer apathischer wurde und immer mehr an Gewicht zunahm. Ich war froh, dass sie schließlich, nach langem Zureden, bereit war, sich einem anderen Arzt anzuvertrauen. Von da an ging es wieder aufwärts. Sie hat in den vergangenen Jahren sehr vieles in den Griff bekommen, was bis dahin kaum möglich schien.
Vor einigen Jahren las Julia ein Buch, in dem Kinder mit ADS beschrieben wurden. Sie meinte, genauso hätte sie sich als Kind gefühlt. Einiges deutet darauf hin, dass sie darunter leidet, das würde bedeuten, dass sie sehr viele Jahre lang nicht die richtige Diagnose bekommen hätte. Andererseits würden sich neue Möglichkeiten eröffnen.
Heute ist vieles von den Gefühlen noch da, aber es gelingt mir immer besser, die Verantwortung bei ihr zu lassen und gleichzeitig genauer hinzuschauen, wann sie Angstgefühle bekommt, und mit ihr darüber zu sprechen, wie sie mit solchen Situationen umgehen kann. Ich versuche auch zunehmend sinnvoller zu reagieren, nicht ihre pessimistische Sichtweise zu übernehmen (sie kann sehr gut argumentieren, sodass diese häufig angebracht erscheint), sie darin zu stärken, sich selbst zu helfen und nicht zu viel zu übernehmen…
Ich mag Julia gerne und hoffe immer noch, dass es ihr einmal für längere Zeit einfach gut geht. Mir gefällt, wie ehrlich und ursprünglich sie sich verhält, manchmal wie ein Kind, wie sie genießen kann und über wie viele Dinge sie Bescheid weiß. Es ist ihr trotz allem oder vielleicht gerade, weil sie immer wieder Unterstützung braucht, gelungen, einen großen Freundeskreis aufzubauen.
Manchmal ärgere ich mich auch über ihre spontane Art, Dinge sofort und vor allem gefühlsmäßig anzugehen.
Natürlich haben all diese Erfahrungen auch ihre positive Seite: Durch die „Krankheit“ von Julia sind die Beziehungen in unserer Familie sehr eng, wir halten sehr zusammen. Ich habe durch sie viel Verständnis für Menschen entwickelt, denen es nicht so gut geht. Und, wofür ich wirklich dankbar bin: Durch diese Erfahrungen habe ich sehr darauf geachtet, zu meinen eigenen Kindern eine sehr liebevolle und achtsame Beziehung aufzubauen. Und das ist mir auch gelungen.
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