Der Text stammt aus der Informationsbroschüre „Psychische Gesundheit – was ist das?“, Seite 57 bis 61, herausgegeben im Jahr 2009 von der Autonomen Provinz Bozen, Amt für Gesundheitssprengel (2. überarbeitete Auflage).
Psychosomatische Störungen
sind körperliche Beschwerdebilder ohne eine körperliche Krankheit. Psychosomatische Störungen können sich in praktisch allen Organen und Bereichen des Körpers zeigen. Der Begriff stammt aus dem Griechischen (soma = Körper, Leib und psyche = Atem, Seele), das heißt er beschreibt eine Störung, die sich körperlich ausdrückt, sich wie eine körperliche Krankheit zeigt, aber in Wirklichkeit eine seelische Ursache hat.
Es gibt verschiedene Begriffe in der Medizin und in der Umgangssprache, die im Grunde alle dasselbe beschreiben: funktionelle Störung, somatoforme Störung, larvierte Depression, vegetative Dystonie, Nervenschwäche, nervöse Erschöpfung, Befindlichkeitsstörung und andere. Psychosomatische Störungen sind nicht fassbar, da meist „nur“ die Funktion eines Organs gestört ist und keine Schädigung am Organ feststellbar ist. Trotzdem leidet der Betroffene oft sehr darunter.
Psychosomatische Störungen werden durch seelische und soziale Belastungen ausgelöst und aufrechterhalten. Sie stellen also einen Versuch des Unbewussten dar, eine bestimmte Konfliktsituation zu bewältigen. Dazu benützt das Unbewusste unseren Körper oder Teile davon. Die Symptome sind oft genau beschreibbar (wie Kopfschmerzen oder Stechen im Herzbereich, Brennen beim Wasserlassen), oft aber auch schwer zu definieren oder einzugrenzen (z.B. Unlust, Müdigkeit, Unruhe, Druck im Bauch). Häufig wechseln die Beschwerden auch oder werden von Betroffenen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beschrieben (zum Beispiel Ziehen und Druck im Rücken, bei einer Untersuchung zwei Monate später eher Stechen und Brennen).
Das Arzt-Patient-Verhältnis ist bei den psychosomatischen Störungen besonders schwierig
Um die Diagnose einer psychosomatischen Störung zu stellen, muss der Arzt körperliche Ursachen ausschließen. Dazu bedarf es einer Reihe von Untersuchungen, die oft wieder neue Abklärungen erforderlich machen. Wird nach langem erfolglosem Suchen der Verdacht einer seelisch ausgelösten (=psychogenen) Störung geäußert, fühlt sich der Patient oft nicht ernst genommen. Er verliert das Vertrauen zu seinem Arzt und glaubt, dieser halte ihn für einen „eingebildeten Kranken“ oder schlimmer noch für einen „Spinner“. Enttäuscht wechselt er Arzt, unterzieht sich neuen Untersuchungen und Analysen, die wieder „kein Ergebnis“ bringen.
Auf diese Weise wird oft eine ganze Reihe von Ärzten aufgesucht und wieder verlassen. Man spricht vom „doctor-shopping“. In manchen Fällen kommt es sogar zu operativen Eingriffen. Ist für einen Arzt dann klar, dass keine körperliche Störung vorliegt, ändert sich die Arzt-Patient-Beziehung oft maßgeblich: Der Betroffene wird dann mit seinen Forderungen nach Hilfe meist als lästig betrachtet; die weiteren Überweisungen zu Untersuchungen oder anderen Ärzten geschehen aus der Haltung heraus: „Wie kann ich ihn mir vom Leibe halten?“ Diese Haltung ist besonders schädlich für die weitere „Karriere“ des Patienten. Er wechselt immer verzweifelter Ärzte, fühlt sich immer weniger verstanden. Tatsächlich geht es darum, den Patienten zu verstehen. Ärzte sollten Menschen mit psychosomatischen Störungen öfter sehen. Dadurch kann vermieden werden, dass sie immer neue Ärzte aufsuchen und teure Untersuchungen oder Eingriffe fordern. Ein respektvoller Umgang mit diesen Patienten macht es leichter, sie behutsam in eine psychotherapeutische Behandlung zu überweisen.
Psychosomatische Störungen sind die häufigsten Beschwerden in der Medizin
15 bis 50 Prozent aller Patienten, die den Hausarzt aufsuchen, leiden unter psychosomatischen Störungen. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. In einem Jahr leiden etwa mehr als 10 Prozent der Bevölkerung an psychosomatischen Störungen. Diese sind damit nach Angststörungen und Depressionen die dritthäufigste psychische Störung. Sie treten hauptsächlich zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf. Ledige, getrennt Lebende und Geschiedene sind häufiger betroffen.
Das Beschwerdebild umfasst immer seelische und körperliche Beeinträchtigungen. Die Betroffenen betonen die körperlichen Veränderungen, und nehmen die seelischen nicht wahr. Auf seelischem Gebiet findet man: Ängstlichkeit, Nervosität, Reizbarkeit, Lustlosigkeit, Unentschlossenheit, Ermüdbarkeit, Konzentrationsstörungen. Auf körperlicher Ebene treten Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Ohrensausen, Druckgefühl oder Kloß im Hals, Herzklopfen, Herzkrämpfe, Druck auf der Brust, Enge beim Atmen und Ringen um Luft, Appetitmangel, Übelkeit, Krämpfe im Magen-Darm-Bereich, Blähungen, Durchfall oder Verstopfung, Regelblutungsstörungen, sexuelle Leistungsschwäche, Harndrang, Juckreiz, Schweißausbrüche, Schlafstörungen, Schwäche oder Schmerzen in jedem beliebigen Körperteil oder am ganzen Körper auf.
Psychosomatische Störungen besitzen klare Kennzeichen. Der Beginn einer psychosomatischen Störung reicht meist Jahre oder Jahrzehnte zurück, ist oft auch nicht mehr zu bestimmen. Eine kurze Vorgeschichte ohne seelische Belastung spricht eher für eine organische Störung. Je mehr verschiedene Beschwerden vorliegen, desto unwahrscheinlicher ist eine organische Ursache. Auch ein häufiger Wechsel der Beschwerden spricht eher für eine psychosomatische Störung. Oft treten die Beschwerden zusammen mit einschneidenden Veränderungen im Leben der Betroffenen auf.
Bei der Entstehung einer psychosomatischen Störung wirken mehrere Ursachen zusammen
Eine Rolle scheinen die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Kindheit zu spielen. Das familiäre Umfeld ist meist unflexibel, starr, sozial überangepasst, durch negative Ereignisse belastet. Uneheliche Geburt, konfliktreiche Beziehung der Eltern, häufige Abwesenheit oder psychische Krankheit der Mutter, hoher Erwartungsdruck und starke Ängste scheinen weitere Risikofaktoren für die Entstehung einer psychosomatischen Störung zu sein. Die Persönlichkeit weist oft Unsicherheiten und Kontaktschwierigkeiten als Ausdruck eines gestörten Selbstwertgefühls auf. Häufig bemühen sich Betroffene sehr um Anpassung, meist durch Leistung. Bestimmte Anforderungen können Versagens- und Zukunftsängste auslösen.
Enttäuschungen, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich, können oft nicht richtig verarbeitet werden. Eine Krankheit bedeutet dann einerseits Hilfe und Zuwendung, andererseits aber auch Möglichkeit zur Abgrenzung. Krisen oder Schwellensituationen des Lebens sind oft unmittelbare Auslöser einer Erkrankung. Solche Situationen sind Heirat, Wohnortwechsel, beruflicher Auf- oder Abstieg, Geburt oder Selbstständigwerden der Kinder und anderes. Dabei kommt es nicht unbedingt auf das Ereignis an, sondern auf die Bedeutung, die der Betroffene ihm gibt. Mit welchem Organ ein Mensch auf die Belastung reagiert, hängt von vielen persönlichen Gegebenheiten ab – diese Wahl wird unbewusst getroffen.
Psychosomatische Störungen sind nicht gefährlich, erzeugen aber großen Leidensdruck. Sie können gezielt und erfolgreich behandelt werden.
Für Betroffene ist es wichtig, sich von Abstempelungen wie „nervenkrank“ oder „verrückt“ freizumachen. Dazu dienen auch Aufklärungskampagnen wie die Veröffentlichung dieser Broschüre, die Sie gerade in der Hand halten. Vorbeugende Maßnahmen sind vor allem offene Gespräche (nicht alles soll geschluckt werden), regelmäßige körperliche Betätigung und gesunde ausgeglichene Ernährung. Die Psychotherapie ist der wesentlichste Teil der Behandlung. Bis es dazu kommt, hat der Patient meist schon einen langen Irrweg medizinischer Untersuchungen und Therapien hinter sich.
Kernpunkt der Psychotherapie ist die Einsicht, dass seelische oder soziale Probleme über den Körper ausgedrückt werden. Betroffene müssen die Ursachen und Zusammenhänge ihrer ganz persönlichen seelischen Schwierigkeiten erkennen und mit ihnen anders umzugehen lernen. In manchen Fällen kann eine gezielte medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva oder Antipsychotika nützlich sein. Auch pflanzliche und homöopathische Arzneien oder Akupunktur können günstig wirken. Von Selbstbehandlungsversuchen mit Alkohol, Nikotin, Koffein, Schmerz- oder Beruhigungsmitteln ist unbedingt abzuraten. Die Verwendung dieser Mittel bewirkt höchstens vorübergehende Erleichterung und kann leicht zu Missbrauch oder Abhängigkeit führen. Selbsthilfegruppen leisten wertvolle Aufklärungsarbeit, bekämpfen bei den Teilnehmern die Gefühle der Isolation und stärken ihr Selbstbewusstsein.