Gedanken und Gefühle von Menschen, die psychisches Kranken erfahren haben
Der Artikel, geschrieben von Carla Leverato, ist in der Zeitung des Verbandes „Selbsthilfe-Auto Aiuto“ Nr. 1/2016 erschienen.
Der Weg bis zur Genesung fordert Angehörige wie Betroffene zwar gleichzeitig, jedoch nicht gleichermaßen.
Betroffene lassen anfangs möglicherweise Gefühle wie Wut, Verzweiflung und Ohnmacht an ihren Angehörigen aus. Den Eltern wird die Schuld gegeben, und meistens kreisen die Gedanken darum, dass sie Fehler bei der Erziehung gemacht haben, dass sie das Kind vernachlässigt, nicht geliebt haben. Auch von den Geschwistern fühlen Betroffene sich immer wieder ausgeschlossen, sie fühlen sich von niemandem geschätzt, von niemandem verstanden. Sie denken, die anderen müssten sich ändern, sie selbst sehen sich nicht als krank. Somit wird auch kein Arzt aufgesucht.
Die Familienangehörigen hingegen verstehen nicht, was vor sich geht. Meist übernimmt die Mutter oder Frau aus Angst und Unsicherheit und um nicht völlig von ihren Schuldgefühlen erdrückt zu werden, viel zu viel Verantwortung. Ihr Leben scheint nur noch aus „müssen“ zu bestehen: „Ich muss an ihn/sie denken. Ich muss ihn/sie zum Arzt bringen. Ich muss ihn/sie dazu bringen, dass er/sie die Medikamente nimmt. Außer mir kümmert sich ja niemand…!“
So versuchen alle in einem gewissen Sinne, Veränderungen zu vermeiden. Es ist sehr schwierig, eingefahrene Familienmuster, die bisher das Leben bestimmten, zu durchbrechen. Es beginnt eine schwere Zeit. Das Gefühl der eigenen Schwäche lähmt, aber noch ist es zu früh, sich das einzugestehen.
Situationsbedingt spielen bei den Betroffenen Wut und Scham eine große Rolle: weil man keine Arbeit hat, weil alle glauben zu wissen, was gut für einen ist, weil vom Arzt nicht die Hilfe kommt, die man sich erwartet, weil man sich einsam fühlt, weil man Angst davor hat, was die anderen denken könnten usw.
Bei den Familienangehörigen hingegen wechseln sich Hoffnung mit Selbstvorwürfen ab. Sie glauben, nicht genug getan und falsch gehandelt zu haben.
Allmählich verstehen alle, dass es so nicht weiter gehen kann. Und irgendwann tritt anstelle des „ich muss“ ein „ich möchte“ für ihn/sie, dass es ihm/ihr besser geht, dass ich ihm/ihr behilflich sein könnte… Nur wenn die Angehörigen ihre eigenen Grenzen erkennen, sie sich eingestehen und Hilfe annehmen, kann sich etwas verändern. Die Folge ist, dass auch der/die Betroffene sich verändert.
Wenn Angehörige verstehen, dass sie dem/der Betroffenen zu viel abgenommen haben, dass es besser wäre, nur dann einzugreifen, wenn es unbedingt nötig ist und dass sie mehr an sich selbst denken müssen, dann wird der/die Betroffene erkennen, dass er/sie für seine/ihre Gesundung und für sein/ihr Leben selbst verantwortlich ist. Er/Sie darf ruhig auch mal „hinfallen“, wenn er/sie es so will. Auch entwickeln Betroffene so ein besseres Verständnis gegenüber ihrer Familie und erkennen, dass sie mitgelitten und alles getan hat, was sie konnte.
Aus den folgenden Berichten wird deutlich, dass es der Übergang vom „müssen“ zum „können und wollen“ ist, der eine Veränderung herbeiführt, der einen neuen Weg einschlagen lässt, nämlich jenen zur Gesundung aller.
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